MYSTORY mit …

Jay
53 Jahre, Einbeck

„Meine Reise begann mit einem Ende und
einem Anfang, und dieses Ende machte am
Ende meinen wahrhaftigen Neuanfang als
nicht-binäre Person möglich. …“

Veröffentlicht: November 2022

Ein Neuanfang.

Am 6. März 2020 begann die bisher ungewöhnlichste Reise meines Lebens. Sie begann mit einem Ende und einem Anfang, und dieses Ende machte am Ende meinen wahrhaftigen Neuanfang als nicht-binäre Person möglich. An diesem Tag endete mit dem Tod meiner Beziehungsperson die Liebe meines Lebens. Ich war unendlich dankbar für die 23 Jahre, die ich aller Unkenrufe zum Trotz, mit ihr verbringen durfte.

Eine Liebe, die selbst uns Liebenden am Anfang so ungewöhnlich erschien, dass wir uns damals gefragt haben: „Kann unsere Beziehung wirklich funktionieren und gutgehen?“ Wir haben beschlossen, das Risiko einzugehen. Meine große Liebe war und blieb bis zu ihrem Tod, mit ihrem Ehemann verheiratet und hatte drei Kinder, die zu Beginn unserer Beziehung, zwischen 6 und 13 Jahren alt waren. Sie war 12 Jahre älter als ich. Wir lebten 23 Jahre lang eine ungewöhnliche, öffentlich bekannte, Patchwork-Regenbogen-Familien-Beziehung. Sie fehlt mir bis heute.

Heute bin ich sogar dankbar für diese Leere, die ihr Fehlen in meinem Leben hinterlassen hat. Ich bin auch dankbar, dass mich der kurz nach ihrer Beerdigung gestartete Corona-Lockdown auf mich selbst zurückgeworfen hat. Durch das Fehlen von externen Ablenkungen vermochte ich diese Zeit zur inneren Sammlung und meine Neuorientierung nutzen. An vielen einsamen Abenden auf meinem Balkon, begann ich nach Antworten auf Lebensfragen zu suchen und neue Ziele zu definieren.

„Wo sollte mein Weg nun hinführen?“ „Wie will ich leben?“ „Was sind meine Ziele?“

Ich fand damals mehr Fragen als Antworten. Ich entdeckte in mir Verließe und verschlossene Türen, dunkle Höhlen und verschüttete Schächte. Was mir fehlte, war Licht. Je tiefer ich stieg, umso geringer wurde meine Hoffnung, allein Antworten zu finden, die Licht in das Dunkel bringen konnten. Ich gestand mir ein, dass ich nicht alle Fragen allein beantworten konnten, und holte mir eine professionelle externe Reisebegleitung in Form eines Coachings.

Es stellte sich schnell heraus, dass ich mir die richtigen Fragen zum falschen Zeitpunkt gestellt hatte. Ende 2020 war ich noch viel zu sehr in den gesellschaftlichen Normen und Konventionen der Heteronormativität um mich herum und in meinen eigenen inneren Glaubensätzen gefangen. Diese Gedanken und Konventionen blockierten meinen Weg zu den Antworten.

Ich wollte, nein ich musste etwas Neues ausprobieren, so wie damals im Urlaub in Kanada. Täglich hatte ich mich damals für das klassische englische Frühstück entschieden. Das kanadische Frühstück mit French Toast (Arme Ritter), knusprigem Speck und Ahornsirup erschien mir eine zu absurde Kombination zu sein. Speck und Ahornsirup?! Ein mit Ei getränktes Weißbrot, statt Ei auf dem Weißbrot und Speck extra dazu. Ich vermochte mir diese Kombination aus süß und salzig nicht als lecker vorzustellen. Eines Morgens sah dieses Essen am Nachbartisch so lecker aus, dass ich mich getraut habe, es auch zu bestellen und zu probieren. Es war eine Offenbarung und eine Symbiose von Gegensätzen, die mir, so kombiniert, ein völlig neues, unglaubliches Geschmackserlebnis verschafft haben. Für diese Erfahrung war es notwendig, alte Ideen und Konzepte (wie Geschmackserfahrungen) zu ignorieren.

Meine Erfahrungsprozess direkt vor meinem nicht-binären Coming Out verlief sehr ähnlich, jedoch sehr viel intimer. Auch in diesem Prozess ging es um die Vereinbarung von Gegensätzlichen und um Neuland. Die Sätze, die mir vor diesen Entscheidungen durch den Kopf gingen, waren auf der einen Seite „Traue ich mich wirklich? Was passiert, wenn es eine absurde Erfahrung ist?“ und auf der anderen Seite „Ich bin so gespannt! Ich kann es kaum erwarten.“ Ich, (damals noch Judith – Geschlecht: weiblich; Geschlechtsidentität: „Butch“; sexuelle Orientierung: lesbisch), habe mich mutig entschieden, etwas völlig Neues und Ungewohntes auszuprobieren und dabei alte Pfade zu verlassen. Mit einem neugierigen Anfängergeist habe ich mich auf eine neue Erfahrung eingelassen.

Beschenkt wurde ich mit Antworten auf Fragen, die mich mein gesamtes Erwachsenenleben begleitet haben. „Wer bin ich?“ „Wer oder was ist meine Identität?“ „Wieso fühle ich mich stets „zwischen den Stühlen“ sitzend/stehend?“ Diese Fragen haben mich viele Lebensjahre begleitet.
Ich habe in diesem Erfahrungsmoment meine vorgefertigten Gedanken über Geschlecht und Geschlechtsidentitäten losgelassen und mich von Konvention und Schicklichkeit befreit.

Ich habe Judith losgelassen, oder anders ausgedrückt, Judith hat sich verabschiedet und im gleichen Moment bin ich zu Jay transformiert.

Als Jay (Geschlecht: divers; Geschlechtsidentität: nicht-binär; sexuelle Orientierung: Frauen liebend) fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben ganz und vollständig. Mir war klar, dass ich nun einen neuen Namen und ein neues Geschlecht hatte. Nach 50 Jahren endete die Suche nach meiner wahren Identität in einem wahrhaftigen Neuanfang; eine neue Geburtsurkunde machte dies sehr bald sogar amtlich.

Es stand für mich außer Frage, diese innere Transformation auch nach außen hin sichtbar zu machen. Manchmal mahlen auch bürokratische Mühlen schnell. Im Februar erhielt ich ein Attest von meinem Hausarzt, stellte damit einen formlosen Antrag auf Geschlechts- und Namensänderung beim Standesamt und erhielt zeitnah einen offiziellen Termin für die mündliche Antragsstellung.

Es war am 18. Februar 2021, als ich vom Standesbeamten meines Ortes meine neue Geburtsurkunde mit neuem Namen und neuem Geschlecht ausgehändigt bekam. Ich schrieb damit Einbecker Stadtgeschichte, als erste Person mit einem diversen Geschlechtseintrag im Geburtenregister der Stadt. Ich bin sehr dankbar für alle Erfahrungen und Erlebnisse, für alle Menschen, die zu diesem Moment ihrem Beitrag geleistet haben. Ich danke allen Menschen für ihre, mir bei diesem Coming Out entgegengebrachte, Wertschätzung, Verbundenheit und Mitfreude.

Jay, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

VICKY
33 Jahre, München

„Über die Jahre wurde Drag ein immer größerer
Teil von mir, der für mich nicht nur eine Kunstform
darstellt, sondern auch die spielerische
Konfrontation mit meiner Persönlichkeit zulässt. …“

Veröffentlicht: Oktober 2022

(M)eine reise in drag.

Vicky Voyage ist immer eine Reise wert.

Mit meiner Drag Persönlichkeit Vicky Voyage nehme ich euch mit auf eine abwechslungsreiche Spritztour in die Welt der Drag-Kunst. Mit Charisma und Witz präsentiere ich als internationale Performerin, Moderatorin und Unterhalterin durchdachte und clevere Konzepte mit extravaganten Outfits und starkem Make-Up. Ich serviere auf meinen Stopps verschiedensten Augenschmaus: Unter anderem war ich als fulminante Feuerfee (CSD München 2018), als schillernder Schmetterling (CSD München und Wien 2019), sagenumwobene Schneekönigin (Drag Voyage Kalenderprojekt 2022) und auch als liebevolle Lokalmatadorin im Dirndl (auf verschiedenen Events) unterwegs. Auf Galas und Parties, in Shows und im Theater: Mit Pole Dance, einem Hauch von Akrobatik oder auch nur mit meiner prallen Präsenz lade ich das Publikum zum Staunen ein.

Über die Jahre wurde Drag ein immer größerer Teil von mir, der für mich nicht nur eine Kunstform darstellt, sondern auch die spielerische Konfrontation mit meiner Persönlichkeit zulässt.

Nachdem die Pandemie – nach vielen verschiedenen Veranstaltungen – die Welt schließlich nahezu zum Erliegen brachte, kam mir, während der Lockdown-Phase, die Idee zum ersten professionellen Drag Kalender Deutschlands. Auftritte waren nicht möglich, Projekte fielen weg – ein neues musste her. Da sich die Drag Szene auch in Deutschland weiterentwickelt hat, wollte ich mit dem Kalender gerne einen kleinen Einblick in die Facetten verschiedener Charaktere geben und euch zusammen mit anderen Künstler:innen mit auf meine Reise durch die wunderbare Welt des Drag nehmen. Entdeckt mit mir fabulöse Kings & Queens aus München und Augsburg und wie sie mit diverserer und kunterbunter Kunst spielen, immer geleitet von der Frage: Was bedeutet Drag für die Künstler:innen, was bedeutet es für dich?

Mit dem Bild, das ihr seht, das Motiv für den Dezember 2022, wollte ich etwas ganz bestimmtes ausdrücken. Mein Thema war:

#legendary: I write my own story and walk my own path – preferably in high heels.

Angelehnt an Aschenputtel soll das Bild verdeutlichen, dass ich nicht auf meinen Prinzen warten muss, bis ich ein erfülltes Leben haben kann, sondern dass ich als starke Persönlichkeit meinen eigenen Weg wählen und gestalten sowie dabei für mein eigenes Glück verantwortlich sein kann.

Für den Verkauf des Kalenders habe ich nicht nur meinen eigenen Webshop eingerichtet, sondern habe mit verschiedenen Händler:innen zusammengearbeitet, die in ganz Deutschland und auch in Österreich und der Schweiz den Kalender vertrieben haben. Obwohl das Produkt „Kalender“ im Jahr 2022 nicht mehr in jedem Haushalt zu finden ist und die Drag-Motive nicht alle Menschen gleichermaßen anspricht, wurde der Kalender mit unseren persönlichen und ausdrucksstarken Bildern quer durch die Gesellschaft gut angenommen. Es wurden fast alle 1.000 Exemplare verkauft oder sozialen Projekten gewidmet. Es waren tolle neue Erfahrungen und das ganze Team kann stolz auf das Ergebnis sein. Hier nochmals ein herzliches Dankeschön an alle, die so motiviert mitgewirkt und zum erfolgreichen Endergebnis beigetragen haben.

Da ich hoffe, dass sich die Corona-Situation bessert und wieder mehr Möglichkeiten zugelassen werden, widme ich mich 2022 und auch den nächsten Jahren als Unterhalterin, Moderatorin, Performerin oder auch Organisatorin wieder verstärkt Events, da darf zum Beispiel der CSD in München nicht fehlen oder auch eine Drag Show in meiner Allgäuer Heimat, die für 2023 geplant ist.

Zudem will ich zukünftig gerne versuchen, meinen Ingenieurwesen-Hintergrund verstärkt mit meiner Kunst zu verbinden, denn die Reise von Vicky Voyage ist noch lange nicht zu Ende.

Liebe VICKY, vielen Dank für YourStory!
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Bakry
42 Jahre, Berlin

„Jede erlebte Diskriminierung in einem
bestimmten Kulturkreis ermöglichte es meinem
Verstand, mich gegen Unterdrückungen und
Mikroaggressionen anderer sozialen Gruppen zu wappnen. …“

Veröffentlicht: Juni 2022

Verwobene Identitäten.

Ich bin Mischling, Cis-Mann, mittleren Alters, homosexuell, ohne bisher festgestellte Behinderung, Franzose, kein deutscher Muttersprachler (der akzent- und fehlerfrei Deutsch spricht), aus dem Proletariat kommend, der einen Bildungsaufstieg erlebt hat. Ich bin das alles und sogar noch viel mehr.

Das Coming Out ist mir fremd, würde ich sagen. Als ich ungefähr 18 war, arbeitete ich für das Hotel Central, eines der ersten gay Etablissements aus den 80ern in Paris. Nach meiner ersten Schicht erzählte ich meiner Mutter meine ersten Eindrücke über diesen LGBT*IQ-Ort. Sie fragte mich, ob alle meine Kollegen gay seien. Meine Antwort lautete ja. Anschließend fragte sie mich, ob ich selbst schwul sei. Meine Antwort lautete ja. Das war es, meine bedeutungslose kräftige Aussage über meine sexuelle Identität. Alles in allem war es eine paradoxale insignifikante Erfahrung für einen Gay- PoC aus einem proletarischen Migrantenviertel, Ende der 90er. Ich hatte nie das Bedürfnis oder den Zwang, mich zu erklären. Ich war „openly gay“ wie einen Cis-heterosexueller Mann „openly straight“ sein könnte: ereignislos. Einige Monate später, als ich zu meinem ersten Freund umzog, kam regelmäßig mein jüngster Bruder zu Besuch, um mit meinem Freund Videogames zu spielen. Das Leben eben.

Hingegen habe ich mehrmals intersektionale Queer Awakenings erlebt, die ich im Nachhinein begriffen habe. Nach der Lektüre von „Die Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon ist mir bewusst geworden, dass mein Ich-Schwul-Sein eine Rolle in meinem Bestreben, etwas anderes zu werden als das, wozu mich der Determinismus der sozialen Reproduktion trieb, gespielt hat. Tatsächlich fühlte ich mich hingezogen, andere Sphären zu betreten, um meinesgleichen zu begegnen.

Ich verspürte die Notwendigkeit, die widersprüchliche Vielfalt meiner verwobenen Identitäten zu verstehen und sie miteinander in Einklang zu bringen. Das war sinnlos.

Damals, weder in der Gay-Szene noch in anderen subkulturellen Räumen, konnte ich ein Gefühl von kompletter Zugehörigkeit spüren. Egal in welchen sozialen Gruppen ich mich befand, tauchten ausnahmenlos Unterdrückungsmechanismen auf. Es gab kein meinesgleichen, sondern das ewige Ballett von Zuschreibungen und Selbstbestimmungen. Immer wieder beobachtete ich, wie sich die sozialen Interaktionen in binären sozialen Gegensätzen neu definieren ließen. Allerdings: Jede erlebte Diskriminierung in einem bestimmten Kulturkreis ermöglichte es meinem Verstand, mich gegen Unterdrückungen und Mikroaggressionen anderer sozialen Gruppen zu wappnen.

Nehmen wir das Beispiel der Sprache, die über ihre kommunikative Funktion hinaus auch ein strukturierendes Element der Kultur ist. In der Tat kann sie ein Instrument der Stigmatisierung oder eine Zuweisung für soziales Prestiges sein. So half mir die Verve der jugendlich ätzenden Gossensprache der multikulturellen urbanen Welt meines Quartiers, Barbès, sowohl die (un)bewusst rassistisch geprägten Sprüche als auch die ironisch ausgrenzende Schlagfertigkeit der dominierenden weißen Männer der Queer-Community abzuwehren. So half mir der schamlose schwarze Humor der Queer-Szene, mich von meiner Scham über meine proletarische Sprache zu befreien. So half mir die schamlose Kühnheit der Sprache meiner Klasse, fremde Sprachen schamlos mit Akzent und Fehlern zu sprechen. Alle diesen Facetten meiner Identität unterstützen mich bei der Navigation in einer Gesellschaft, deren Normen und Abweichungen ständig verhandelt werden. Man könnte diese Anpassungsfähigkeit als Verstellung wahrnehmen, aber ich würde es als soziale Performativität der Vielfältigkeit eines Individuums bezeichnen.

Mittlerweile war meine PoC-Queer-Identität ein Vorteil bei meiner D&I-Beratungsarbeit mit der Agentur Ozecla in Frankreich, um Unterdrückungsmechanismen und die verzerrenden Filter der Menschen zu dekonstruieren.

Es kam häufig vor, dass in weißen feministischen Milieus die Wechselhaftigkeit der sozialen asymmetrischen Dynamiken in Bezug auf die Verteilung der Machtverhältnisse aufzuklären war. Insofern, als das weiße Frauen darauf hinzuweisen waren, dass sie gegenüber einem Queer schwarzen Mann aufgrund ihrer dominierenden weißen heteronormativen-cisgender Identitäten Unterdrückungsformen ausüben könnten.

Es erfordert viel Resilienz von mir, die Abwehrmechanismen einer unterdrückten Gruppe zu ertragen, wenn ich sie über ihre eigenen Unterdrückungsmechanismen aufkläre. Dieses Phänomen begegnet mir immer wieder in den letzten Jahren auch in Deutschland – sowohl bei meiner D&I-Arbeit in der Queer-Community als auch während meines Engagements in meiner Hauptbeschäftigung. Es ist eine belastende Herausforderung, die gesellschaftlichen Mechanismen von Rassismus, Queer-Feindlichkeit und Sexismus aufzudecken und zu denunzieren. Aber als schwarzer Queer-Mann mit intersektionalen Ansichten kann ich nicht anders.

Lieber Bakry, vielen Dank für YourStory!
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Leon
43 Jahre, Hannover

„Manchmal braucht es Zeit
und Vorbilder, die
Veränderungen herbeiführen. …“

Veröffentlicht: Mai 2022

EIn Leben, Zwei Outings plus Migrationsgeschichte – Eine Schublade ist genug!

Seit meiner Geburt und in den ersten Momenten der Wahrnehmungen meiner selbst wusste ich, dass ich nicht in dieses vorhandene Körperkostüm und in die „klassische“ Rollenverteilung passte. Die zugewiesenen Farben (Rot und Pink) und die Vorstellungen der Gesellschaft waren mit meinem Ich nicht kompatibel. Ich wurde dennoch – ohne dass man mir zuhörte oder mich in meinem Dasein erkannte – in das weibliche System gedrückt. Sei es durch die Erziehung oder die gesellschaftlichen Vorgaben in Kindergarten, Schule, Ausbildung und Arbeitswelt. Damals waren Transidentität und Intergeschlechtlichkeit noch nie so sichtbar wie heute.

Es gab keine Wissensvermittlung, Anlauf- und Beratungsstellen – einfach nichts, obwohl trans* und inter* Menschen existieren, seitdem es Lebewesen auf dem Planeten Erde gibt.

So wehrte ich mich von Kindesbeinen an gegen dieses weibliche Kostüm und flüchtete viele Jahre in die lesbische Schublade, in der ich für meine damaligen Begriffe annährend ich sein, männliche Kleidung tragen durfte und mich so verhalten konnte wie ich wollte, eben für mich nicht weiblich. Ich nahm dieses „Versteck“ in Kauf und outete mich wie selbstverständlich bei allen Menschen in meinem Umfeld als lesbisch. Die Reaktionen, vielen Fragen, Vorurteile und Diskriminierungen waren mir aufgrund meiner schottisch-türkischen Migrationsgeschichte von klein auf sehr geläufig – ich war quasi schon „trainiert“ darin, diese Diskriminierung auf allen Wegen auszuhalten zu müssen. Was blieb mir auch anderes übrig?

Meine Mutter war nicht überrascht und meinte, ich sei ja sowieso immer wie ein Junge gewesen. Mit dem Unterschied, dass ich schon immer einer war und bin. Sie wusste es nicht besser, woher denn auch? Der Rest der deutsch-schottisch-türkischen Verwandtschaft reagierte unterschiedlich. Von „das wussten wir schon immer“ bis „dieser Mensch kommt nicht mehr in mein Haus“ war alles dabei.

Es war ein enormer Kraftakt für mich, all die Jahre in mir selbst gefangen zu sein. Jedes Mal, wenn ich den Mut hatte, wirklich „herauszukommen“, passierte etwas, das mich zurückwarf: aus Angst vor den Reaktionen meiner Familie, Freund_innen, Kolleg_innen, Angst vor dem Verlust meines Traumberufes, Angst vor der Trennung meiner damaligen Frau. Und irgendwann lernst du, diese Rolle zu spielen, versuchst dir einzureden, es wird schon auch so irgendwie lebenswert sein.

Doch das ICH-sein-dürfen, frei sein können und der Wunsch, dieses Körperkostüm verschwinden zu lassen, wurde im Laufe der Jahre immer stärker und stärker. Sich vor dem Spiegel anzuschauen und – damals als Kind wie im Erwachsensein – den Wunsch zu verspüren, diesen Ballast einfach abzuwerfen und endlich glücklich und frei sein zu können … dieser Traum, dieses Gefühl war kräftezerrend und unerreichbar, denn ich konnte nicht aus mir heraus. Die Angst war viele Jahre zu groß.

Immer, wenn Beiträge über trans* Menschen erschienen oder ich sie auf dem CSD sah, kam dieses Gefühl und der Wunsch nach Freiheit hoch. Innerlich war ich zerrissen, aber ich versuchte, zu funktionieren, immer wieder aufzustehen und mir einzureden „du schaffst das schon“.
Als ich mich 2018 bei meiner Frau outete und über den großen Wunsch sprach, mich aus den Ketten des Leidens lösen zu wollen, weil ich so nicht mehr kann und will und mich genauso fühle wie Balian B., löste ich großes Entsetzen aus und musste die klassischen Reaktionen über mich ergehen lassen:
„Du willst doch kein Mann sein. Ich liebe dich so, wie du bist. Ich liebe deine weibliche Oberweite. Klar bist du sehr männlich, aber ich mag auch die weibliche Seite. Ich möchte keinen Mann mit Bart und vielen Haaren. Du bist doch gut so wie du bist, warum meinst du, nun ein Mann sein zu wollen? Wenn du das tatsächlich machen wirst, dann lasse ich mich scheiden …“

Das war nur ein Bruchteil der Sätze, die mir durchs Mark rauschten und jedes Mal höllische Schmerzen verursachten. Ich liebte diesen Menschen über alles, und ich versuchte, auch ihre Seite zu verstehen, aber wollte sie mich denn verstehen? Nach dem Gespräch mit meiner Frau entschied ich mich zunächst für uns und unsere Ehe und versuchte, die Sehnsucht wieder zu vergraben. Nur merkte ich, dass es mir nicht mehr so gut gelang, da die Sehnsucht und der Leidensdruck sehr schwer auszuhalten waren. Zweieinhalb weitere lange Jahre und immer wiederkehrende Gespräche mit meiner Frau später: „Wenn du das tust, lasse ich mich scheiden.“

Dann lernte ich tolle Menschen kennen, die genauso waren wie ich, mit identischen Lebensgeschichten. Diese beiden Menschen gaben mir die Kraft für meinen nächsten Schritt: 2020 kam Corona und aufgrund der vielen Streitigkeiten mit meiner Frau zog ich vorübergehend mit meinem damaligen Hund, einer französischen Bulldogge, aufs Land.

Dort hatte ich viel Zeit zum Nachdenken – das erste Mal, dass ich mir viel Zeit für mich nahm und nicht immer nur für andere Menschen parat- oder zurückstand. Endlich war ich dran!

Einfach ALLES aus den vergangenen Jahren kam nach oben geschossen wie eine Tornadowelle. In den 4 Wochen veränderte sich mein Leben im Sekundentakt. Meine Frau verwirklichte ihre Androhung und ich stand alleine da. Und durch einen örtlichen Berufswechsel stand ich auch dort vor einem Neuanfang.

Ich nahm nach 41 Jahren all meinen Mut zusammen und outete mich ein zweites Mal. Wenn nicht jetzt, wann dann? Zunächst bei meinem inneren Freundeskreis, dann bei meinen Kolleg_innen und zu guter Letzt bei meinen Vorgesetzen. Die Resonanz war überwiegend sehr positiv!

Seit 2 Jahren fühle ich mich endlich frei und ich bin froh, diesen wichtigen Schritt gegangen zu sein, auch wenn er aus vielen unterschiedlichen Gründen viele Jahre gedauert hat. Manchmal braucht es Zeit und Vorbilder, die Veränderungen herbeiführen. Heute darf ich ein Vorbild sein und möchte vielen Menschen Mut machen. Hab keine Angst, denn Du bist nicht alleine! Es ist wichtig, geschlechtliche Vielfalt und die unterschiedlichen Facetten sichtbar zu machen und das Wissen darum in alle Bereiche zu bringen. Rückblickend frage ich mich manchmal, woher ich die Kraft entwickelt hatte, immer wieder aufzustehen und weiterzugehen. Es waren die vielen tollen Menschen um mich herum, die mir Kraft und Mut gegeben haben. Natürlich auch meine Lust und Freude am Leben und die Tatsache, anderen Menschen Mut und Kraft geben zu können.
Die Erlebnisse haben mich zu dem Menschen geformt, der ich heute bin, mit all meinen Facetten:

Mein Name ist Leon Dietrich, mein Geburtsort ist die Erde, meine Nationalität ist Mensch, meine Politik ist die Freiheit, meine Religion ist die Liebe und ich liebe Menschen und unsere Demokratie!

Lieber Leon, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Oxana
34 Jahre, Hamburg

„War man einmal drin, öffnete sich diese
Parallelwelt, in der alle sich kannten und
man so sein durfte, wie man wollte. …“

Veröffentlicht: May2022

Parallelwelten.

Ich komme aus Russland – dem Land, das heute mit Krieg, Gewalt, Propaganda und Homophobie in Verbindung gesetzt wird. Und es ist kaum zu glauben, dass ich in meiner Jugend, also in den 2000er Jahren, die wahrscheinlich liberalste und freieste Zeit dieses Landes erlebt habe. Das war die Zeit, in der das Pop-Duo „t.A.T.u.“ auch in Europa und in den USA bekannt wurde. Damals störte es in Russland keine_n, dass sich zwei Mädchen auf der Bühne küssten. Viele Mädchen gingen dann auch auf den Straßen in kurzen Röcken Hand in Hand, wie im Video All The Things She Said. Es gab auch andere russische Künstler_innen, die in ihren Lieder und Videos homosexuelle Andeutungen machten. Damit bin ich groß geworden.

Als ich noch Schülerin war, wusste ich zwar, dass es Homosexualität gibt, habe mich aber nicht damit identifiziert. Ich hatte immer enge Beziehungen mit meinen Freundinnen, auch Händchen gehalten und in einem Bett geschlafen. Das war alles harmlos und fühlte sich normal an. Ich wusste auch, dass es in einer Parallelklasse einige Mädels gab, die angeblich auf Frauen standen. Darüber wurde nur geflüstert (später habe ich sie dann auf den Lesbenpartys gesehen). Als ich in einem Feriencamp ein Mädchen kennenlernte und jedes Mal eifersüchtig war, als sie von Jungs erzählte, konnte ich meine Gefühle nicht zuordnen.

Die Tatsache, dass ich auf Frauen stehe, wurde mir erst mit 17 klar, nachdem eine junge Frau in einem heterosexuellen Club auf mich zukam und mich kennenlernen wollte. Mit ihr war ich danach etwa ein Jahr zusammen und wir haben immer noch Kontakt (heute lebt sie mit Frau und Kind in San Francisco). Sie führte mich in die lesbische Community ein.

Die LGBT*IQ-Community in meiner Heimatstadt (ca. 2 Millionen Einwohner) war damals ziemlich groß, es gab einen Club für Lesben und einen für Schwule mit wöchentlichen Partys. In Moskau und Sankt Petersburg gab es natürlich noch mehr: mehr Clubs, mehr Partys, mehr Menschen wie wir, aber wir waren glücklich mit dem, was wir hatten. Natürlich war das alles nicht öffentlich und man musste sich auskennen, aber war man einmal drin, öffnete sich diese Parallelwelt, in der alle sich kannten und man so sein durfte, wie man wollte.

Dort habe ich meine Seelenmenschen gefunden, meine besten Freundinnen. Ich habe diese Parallelwelt geliebt, obwohl sie auch nicht perfekt war.

Ich war Studentin, hatte wenig Geld, wohnte bei meinen Eltern, die mich zwar liberal erzogen haben, aber von meiner sexueller Orientierung damals noch nichts wussten. Während ich mich in der Community so wohlfühlte, wurde die Außenwelt immer weniger tolerant – was ich aber erst später merkte.

Ende 2008 kam ich zum Studieren nach Deutschland, ohne zu wissen, wie lange ich bleiben würde … 14 Jahre später bin ich immer noch hier, glücklich mit meiner Frau verheiratet und mit einem tollen Job führe ich das Leben, das ich mir immer gewünscht habe. Ich fühle mich in Deutschland frei und sicher. Ich bin dankbar für alle Erfahrungen, die ich gemacht und alle Menschen, die ich getroffen habe. Ich bin dankbar für die Zeit, die ich in Russland erlebt habe und weiß, dass es dort heutzutage unvorstellbar und manchmal sogar gefährlich ist, Hand in Hand zu gehen. Trotzdem wünsche ich allen LGBT*IQ-Menschen, dass sie früh den Weg zu sich finden und nur die positiven Begegnungen haben. Denjenigen, die sich noch nicht trauen, kann ich nur sagen: „Habt keine Angst, ihr seid normal und nicht alleine!“

Liebe Oxana, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Jean-Luc
55 Jahre, Frankfurt

„Meine Eltern und Großeltern haben mir beigebracht,
dass die Zugehörigkeit zu einer Minderheit einen positiven
Wert hat und etwas ist, auf das man stolz sein kann. …“

Veröffentlicht: Mai 2022

Wurzelkraft.

Für mich und mein Engagement in der LGBT*IQ-Gemeinschaft sind meine Wurzeln und meine Herkunft sehr wichtig . Seit meiner Geburt gehöre ich zu einer Minderheit in Frankreich, als Protestant in einem sehr katholischen Land. Wir Protestanten repräsentieren etwa 2 Millionen Bürger_innen, das sind weniger als 3 % der französischen Bevölkerung. Wir sind eine starke Gemeinschaft, die sich sehr in Gesellschaft, Politik, Vereinen und Wirtschaft engagiert.

Meine Eltern und Großeltern haben mir beigebracht, dass die Zugehörigkeit zu einer Minderheit einen positiven Wert hat und etwas ist, auf das man stolz sein kann. Außerdem habe ich als Kind gelernt, dass Solidarität innerhalb und außerhalb der eigenen Gemeinschaft essentiell ist – und dass man anderen, die leiden oder abgelehnt werden, helfen sollte, ganz gleich, wer sie sind.

Auch Protestanten wurden in der Vergangenheit diskriminiert, vor allem im 17./18. Jahrhundert, nur wegen ihres Glaubens. Meine Familie hat diese Diskriminierung genauso erfahren wie andere protestantische Familien. Zum Beispiel durften wir früher unsere Toten nicht auf dem Friedhof begraben, sodass jede protestantische Familie einen kleinen Friedhof auf ihrem Grundstück hatte. Aus solchen Erfahrungen heraus wissen wir, wie sich Diskriminierung anfühlt – und das erklärt auch, warum wir Protestanten zum Beispiel während des Zweiten Weltkriegs vielen Juden geholfen haben. So habe ich gelernt, dass ich mich gegen jede Art von Diskriminierung in der gesamten Gesellschaft einsetzen muss.

Seit Generationen haben sich Mitglieder meiner Familie etwa in der Kirche und in der lokalen Politik engagiert. In der evangelischen Kirche werden die kirchlichen Angelegenheiten von einer Synode entschieden und verwaltet, einer Gruppe von Menschen aus 50 % Geistlichen und 50 % Kirchenmitgliedern. Mein Vater war über 20 Jahre lang Mitglied der Synode unserer Gemeinde. Meine Eltern und Großeltern waren auch sehr aktiv in den Gewerkschaften. Und ich bin der erste in meiner Familie, der eine Stiftung mitbegründet hat, worauf sie sehr stolz sind.

Ich habe von klein auf gesehen, wie wichtig und lohnend es ist, sich gesellschaftlich zu engagieren, Zeit für andere zu haben, und dass es möglich ist, positive Veränderungen zu bewirken.

… Vor etwa 23/24 Jahren habe ich mich geoutet und die erste große Liebe meines Lebens kennengelernt. Das gab mir viel Kraft und Selbstwertgefühl, was viele Veränderungen in meinem Leben mit sich brachte. Ich verließ die Universitätswelt, um meine Karriere bei der Deutschen Bank – und auch mein gesellschaftliches Engagement zu beginnen.

Im Jahr 2000 hatte ich dann das Glück, zur Gründungsveranstaltung von dbPride, dem LGBT*IQ-Netzwerk der Deutschen Bank, eingeladen zu werden – das war der Anfang von allem!!!

Von Anfang an, vor mehr als 20 Jahren, bis heute, waren meine Erziehung und meine Wurzeln der Schlüssel und die Hauptantriebskraft für meinen Einsatz für die LGBT*IQ-Gemeinschaft – und darüber hinaus … für eine respektvollere und tolerantere Gesellschaft.

Lieber JEan-Luc, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Louis
42 Jahre, Berlin

„Allen Schwierigkeiten zum Trotz fand ich
mit 20 den Mut, mich zu allen Facetten
meiner Identität zu bekennen. …“

Veröffentlicht: Mai 2022

Being QPOc.

Als QPOC in diesem mehrheitlich heteronormativen-cisgender, weißen Umfeld, habe ich sehr schnell gelernt, (un)bewusste Unterdrückungsphänomene zu identifizieren, um (relativ) sicher durch die Welt navigieren zu können. Das war einfach eine Frage des Überlebens  – zumindest kam es mir damals, zum Teil zu Recht, so vor. All diesen Schwierigkeiten zum Trotz fand ich mit 20 den Mut, mich zu allen Facetten meiner Identität zu bekennen – dank der Unterstützung von QPOC-Freund_innen, die ich in der Aktivist_innenszene kennengelernt habe und deren Geschichten mich motiviert haben.

Kurz nach meinem Coming Out hatte ich dann die Gelegenheit, nach Köln umzuziehen, um dort weiter zu studieren. Wie alle Gleichaltrigen in einer der queersten Hochburgen des Landes ging ich eines Nachts in eine der zahlreichen Diskotheken. Dort kam ein (weißer) Mann lächelnd auf mich zu, sprach mich aber auf Englisch an. Obwohl ich immer wieder Deutsch redete, antwortete er stets auf Englisch, was mich ein bisschen irritierte, da sein deutscher Akzent einfach zu erkennen war. Der Herr war höflich, nett, bot mir ein Getränk an. Obwohl die Unterhaltung ziemlich angenehm war, war mir klar, dass trotz seines Interesses nicht mehr daraus werden würde. Ganz höflich zeigte ich ihm dann, dass ich außer eines freundlichen Chats nichts mit ihm haben wollte. Plötzlich kam aus dem Nichts die Aussage, die mich völlig vom Hocker warf:

„Why do you have to play hard to get, when a white man is interested in you?“

Mir fiel mir die Kinnlade runter … ich war baff. Der Mann schüttelte seinen Kopf und ging weg. Er dachte wohl, meine fassungslose Reaktion lag daran, dass ich gekränkt war, dass er plötzlich jegliches Interesse an mir verloren hatte – und nicht am rassistischen Beiklang seiner Aussage …

Anfangs dachte ich, dies wäre ein Einzelfall. Unsere gemeinsamen Erfahrungen als queere Menschen hätten aus uns ähnlich eingestellte Menschen gemacht, die sich besser als andere in die Haut jeglicher Minderheiten hineinversetzen können, dachte ich naiv. Wie konnten Menschen, die wie ich Ausgrenzung und Diskriminierung erlebt hatten, die Kühnheit haben, sowas schamlos öffentlich zu äußern? Es war mir damals einfach unvorstellbar, geschweige denn verständlich … bis andere QPOC-Freund_innen mir im Laufe der Zeit ähnliche, manchmal schrecklichere Geschichten erzählten. Da musste ich zur Erkenntnis kommen, dass die queere Community (vor allem der männlich dominierte Mainstream) neben den schon längst identifizierten Themen Sexismus und Transphobie, aller Verleugnung und allem Jammern zum Trotz, leider auch von Rassismus geplagt ist. Und (un)bewusst die rassistischen (aber auch sexistischen) Unterdrückungsmechanismen der allgemeinen Gesellschaft aufrechterhält. Dieses Ungleichgewicht im Machtverhältnis spiegelt sich auch am Arbeitsplatz in meinen Interaktionen mit anderen (weißen) queeren Kolleg_innen wider.

Daher besteht die nächste große Herausforderung für die LGBT*IQ-Community darin, diese Diskussionen und die daraus abgeleitete Arbeit intersektionaler fortzuführen. Das tue ich jeden Tag, sowohl in meiner Rolle als D&I-Manager, als auch in meiner privaten Sphäre, weil es in diesem Gebiet tatsächlich noch wahnsinnig viel zu tun gibt …

Lieber Louis, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Jannette
38 Jahre, Hamburg

„Es ist wichtig, seine Meinung zu sagen und ein
Vorbild für junge Menschen zu sein. Ich wünsche mir,
dass die nächste Generation noch fortschrittlicher ist,
wenn es um Vielfalt und Integration geht. …“

Veröffentlicht: Mai 2022

Vorbilder.

Ich wuchs in einer sehr katholischen philippinischen Familie auf. Lesbisch zu sein war bei uns keine Option – ganz im Gegenteil: Meine Eltern hielten es für eine „Strafe Gottes“.

Auf meinem Weg zum Coming Out gab es ein paar Vorbilder, angefangen mit diesem einen Mädchen aus der Highschool während meines Austauschjahrs in New Jersey. Sie spielte in meinem Basketball-Team, war offen lesbisch … und machte kein großes Ding daraus. Ich habe ihre Stärke und ihren Mut immer bewundert. Sie hat mich inspiriert.

Mein älterer Bruder ist schwul, und ich habe mich ein paar Jahre nach ihm geoutet. Nach dem Coming Out meines Bruders zogen meine Eltern aus Deutschland nach Kalifornien. Ich war damals 17, bereitete mich auf meine Abschlussprüfungen vor, hatte meinen Freundeskreis hier und beschloss, in Bonn zu bleiben.

Sechs Jahre später erzählte ich meinem Vater, dass ich in einer sehr glücklichen Beziehung mit einer Frau bin. Seine Antwort: „Damit will Gott mich bestrafen.“ Ich war sehr enttäuscht von seiner Reaktion.

Es dauerte etwa 10 Jahre, bis meine Eltern akzeptierten, dass mein Bruder und ich homosexuell sind.

Als ich geheiratet habe, sind meine Eltern nicht gekommen. Erst als wir unsere beiden Töchter bekamen, nahmen meine Eltern wieder den Kontakt auf. Ein paar Jahre später beschlossen meine damalige Frau Mareike und ich, uns zu trennen, aber weiterhin gute Eltern zu sein. Mit meiner neuen Frau zusammenzuleben und dies meinen Eltern zu erklären, fühlte sich für sie wie mein zweites Coming Out an, das ihre heile Welt zerstörte. Glücklicherweise dauerte es dieses Mal keine 10 Jahre, bis sie meine Entscheidung annehmen konnten.

Heute kommen meine Eltern sehr gut mit den Partner_innen meines Bruders und mir aus. Meine Frau Mina, die Kinder und ich leben in Hamburg und haben engen Kontakt zu meiner Ex-Frau. Ich finde es toll zu sehen, was für eine Entwicklung meine traditionellen Eltern in den letzten Jahren gemacht haben.

Viele Menschen haben mir auf meinem Weg zum Coming Out geholfen. Zum Beispiel meine Ex-Frau Mareike, die mich gelehrt hat, selbstbewusst zu sein. Sie hat mich ermutigt, meine Meinung zu sagen und für Dinge zu kämpfen, an die ich glaube. Meine Frau Mina, die mich ermutigt, all die Dinge zu tun, an die ich wirklich glaube, und die mich so liebt, wie ich bin. Meine Kinder, die mich jeden Tag inspirieren. Es ist wichtig, seine Meinung zu sagen und ein Vorbild für junge Menschen zu sein. Ich wünsche mir, dass die nächste Generation noch fortschrittlicher ist, wenn es um Vielfalt und Integration geht.

Mein Unternehmen erlaubt es mir, so zu sein, wie ich bin. Das beeinflusst meine Arbeit. Ich könnte nicht für ein Unternehmen arbeiten, das mich zwingt, zu verbergen, wer ich bin. Authentizität ist der Schlüssel.

Liebe Jannette, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Manuela
62 Jahre, Bonn

„Als ich in den 90er Jahren im Fernsehen erstmals eine
Dokumentation über eine Trans* Frau sah, erfassten mich
Abwehr, Faszination und unstillbare Sehnsucht gleichermaßen. …“

Veröffentlicht: Mai 2022

Mein spätes Coming Out als Trans* frau…

Im Alter von 5 Jahren fiel mir das erste Mal auf, dass mit mir „etwas nicht stimmte“, als mich ein helles Gefühl der Freude erfasste, für ein Mädchen gehalten zu werden – gleichzeitig war ich darüber verwirrt und beschämt. Niemals hätte ich mit irgendeinem Menschen darüber sprechen wollen, genauso wenig darüber, wie schön ich es fand, auf dem Dachboden heimlich das Brautkleid meiner Mutter zu tragen. Weitere verborgene weibliche Vorlieben entwickelten sich, gleichzeitig verbunden mit einer starken Abneigung gegen männertypische Verhaltensweisen. Standhaft weigerte ich mich, Anzüge oder Krawatten zu tragen oder mich vor anderen Jungen in der Umkleide beim Sport auszuziehen. Anderseits wollte ich akzeptiert und nicht verspottet werden.

So legte ich mir bewusst männliche Hobbies zu und tat auch sonst alles, mein sich entwickelndes weibliches Inneres vor anderen zu verbergen.

Mädchen faszinierten mich immer sehr – ich bewunderte sie, wollte sein wie sie und verliebte mich in sie. Ich fand mit 19 Jahren meine große Liebe, mit der ich immer noch verheiratet bin und habe 3 wundervolle Kinder. Leider wurde mein Versuch, von meinen inneren Empfindungen zu erzählen, von meiner damaligen Freundin brüsk abgetan und so blieb ich mit meinen verborgenen Empfindungen und der sich in mir aufbauenden weiblichen Parallelwelt Jahrzehnte allein.

Als ich in den 90er Jahren im Fernsehen erstmals eine Dokumentation über eine Trans* Frau sah, erfassten mich Abwehr, Faszination und unstillbare Sehnsucht gleichermaßen. Mir war klar, dass mir hier ein Spiegel vorgehalten wurde. Anderseits empfand ich aber inneren Widerstand, da ich die Konsequenzen und Gefahren sah, wenn ich meinen Wünschen nachgeben würde. So legte ich mir ein Informationsbeschaffungsverbot auf, das ich mehr als 20 Jahre durchhielt, bis die Thematik transgender in den Medien so präsent wurde, dass ich nachgab und eine Internetrecherche begann, die mir nach kürzester Zeit die vermutete Eigendiagnose „transident“ bestätigte.

Danach kreisten meine Gedanken nur noch um meine Transgeschlechtlichkeit und ich begriff, dass an meinem Coming Out kein Weg mehr vorbei führte. Beginnend mit meiner Frau und meinen Kindern öffnete ich mich Freund_innen und wenigen guten Kolleg_innen und war über die weitgehend positiven Reaktionen und angebotene Unterstützung sehr überrascht, waren doch die Erzählungen im Internet meist von persönlichen Katastrophen gekennzeichnet. Dies galt nicht zuletzt für das Berufsleben, wo mir bei meinem Arbeitgeber RWE kein einziger vergleichbarer Fall bekannt war, was mir besondere Angst machte. So rechnete ich fest damit, in diesem männerdominierten, damals (wie ich zumindest dachte) recht konservativen Unternehmen meinen fachlichen und menschlichen Ruf zu verlieren sowie ausgegrenzt und verspottet zu werden.

Doch es kam ganz anders. Zuerst einmal rannte ich beim Bereich Diversity offene Türen ein, als ich dort um Unterstützung für mein Vorhaben bat, im Job die Transition zur Frau zu wagen. Endlich jemand, der sich bei RWE mit Namen und Gesicht offen dazu bekennt, transident zu sein, wurde mir gesagt, und gemeinsam ein Plan zum betrieblichen Coming Out erarbeitet, wofür ich mir Rückendeckung bis hinauf zum Vorstand holte. Nach persönlicher Vorabinformation einiger weniger Kolleg_innen und Vorgesetzter, zu denen ich ein besonderes Verhältnis hatte, versandte unser Vorstand während meines Urlaubes eine Mail an seine Führungskräfte, die es wiederum an ihre Mitarbeiter_innen verteilten.

Noch im Urlaub erreichten mich zu meiner Freude herzliche und Unterstützung anbietende Nachrichten, sodass meine Sorgen vor den Reaktionen der Kolleg_innen dahinschmolzen wie Schnee in der Sonne! Es folgten zahlreiche weitere Outing-Gespräche mit Menschen, die mir persönlich wichtig waren und bei denen ich besonderen Wert darauf legte, dass sie meine Geschichte verstehen und mich auf meiner Reise begleiten! Allerdings gehört auch erwähnt, dass ich einige Freund_innen verloren habe, die meiner Wandlung nicht folgen wollten, an deren Stelle ich aber wunderbare neue Menschen kennenlernen durfte.

Schwer war es ebenfalls für meine engste Familie, aber wir hielten zusammen und gingen den teilweise steinigen Weg gemeinsam.

Bei RWE entstand der Kontakt zu einer weiteren Trans* Frau, ein schwuler Kollege schloss sich an und wir gründeten das LGBT*IQ & Friends Netzwerk bei RWE, das inzwischen 225 Mitglieder hat. Uns verbindet inzwischen neben herzlicher Freundschaft das Ziel, es anderen Mitgliedern der LGBT*IQ-Community leichter zu machen, sich im Job zu outen. Hierzu leisten wir Hilfestellung und Beratung und stehen im engen Austausch mit anderen Firmen und LGBT*IQ-Netzwerken in Deutschland.

Es bleibt festzuhalten, dass mir meine Transition beruflich in keinerlei Weise geschadet hat. Im Gegenteil: Durch den offenen Umgang mit dem Thema Transidentität entstanden eine für mich bis dahin nicht gekannte gegenseitige Offenheit und zwischenmenschliches Vertrauen – was der Arbeitsatmosphäre mit internen wie externen Partner_innen bis heute sehr zugutekommt.

Liebe Manuela, vielen Dank für YourStory!

Der diesjährige IDAHOBIT und #MyStory

Der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter*- und Trans* Feindlichkeit (IDAHOBIT) wird seit 2005 jährlich am 17. Mai begangen, um auf die Diskriminierung der LGBT*IQ Community hinzuweisen, Awareness für bestehende Ungleichheitsstrukturen zu schaffen und sich gemeinsam für Vielfalt und Toleranz zu positionieren. Der 17. Mai kennzeichnet den Tag, an dem die WHO 1990 Homosexualität aus dem Diagnoseschlüssel für Krankheiten strich.

Wir wollen heute und jeden Tag im Jahr die bunte Vielfalt der LGBT*IQ-Community feiern und haben deshalb das Format „MyStory“ ins Leben gerufen. Das Format gibt all den individuellen Geschichten, die queere Menschen tagtäglich erleben eine Bühne, denn wir sind der Meinung, dass jede_r etwas inspirierendes zu erzählen hat. Wir starten heute schon mit vier bewegenden Stories.

IDAHOBIT 2022

Facts

Studien belegen, dass arbeitsplatzrelevante Diskriminierungserfahrungen immer noch zum Alltag von vielen LGBT*IQ-Menschen gehören. Die 2020 veröffentliche Studie „Inter* im Office?!“ Die Arbeitssituation von inter* Personen in Deutschland unter differenzieller Perspektive zu (endo) LSBTQ+ Personen.“ von Prof. Dr. Dominic Frohn stellt fest, dass 37,7% der Befragten (endo*) trans* und/oder nicht-binären Personen, ca. 30% der inter* Befragten und ca. 20& der (endo* cis) LSB+ Personen direkt arbeitsplatzrelevante Diskriminierung , in Form von z.B. Absage des Arbeitsplatzes, Versetzung oder Kündigung, erfahren.

So ist es nicht verwunderlich, dass laut einer Umfrage der Boston Consulting Group (2018/19) 22% der Befragten ein Coming Out am Arbeitsplatz als potenzielles Karriererisiko sehen. 42% würden ihre Führungskraft bezüglich der eigenen sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität anlügen. Mehr Hintergrundinformationen und Studien zu LGBT*IQ (am Arbeitsplatz)

Support

Die Diskriminierung von LGBT*IQ-Menschen zeigt sich neben dem Arbeitsplatz auch noch deutlich auf weiteren gesellschaftlichen Ebenen. Setzen Sie sich mit diesen Themen auseinander und machen sich bestehenden Ungleichheitsstrukturen bewusst. Nur durch das Bewusstmachen dieser Strukturen und Missstände können auch Sie einen aktiven Teil zu deren Abbau beitragen. Die hier genannten Punkte stellen nur einen Auszug und keine vollständige Liste von Möglichkeiten dar, mit denen Sie Ihr Engagement für LGBT*IQ-Chancengleichheit und gegen Homo-, Bi-, Inter*- und Trans* Feindlichkeit starten können.

BLutspende

Bis heute werden schwule, bisexuelle und trans* Männer faktisch nicht zur Blutspende zugelassen. Die Richtlinie Hämotherapie der Bundesärztekammer besagt in ihren Anforderungen, dass „Personen, deren Sexualverhalten ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhtes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten wie HBV, HCV oder HIV birgt“, für vier Monate kein Blut spenden dürfen. Bringen Sie beispielsweise Ihr Unternehmen dazu unser Positionspapier Blutspende zu unterzeichnen und sich weiteren Unerzeichner_innen anzuschließen.

EU LGBT*IQ Freedom Zone

2020 erklärten einige polnische Gemeinden und Städte ihre Region als so genannte „LGBT-freie Zonen“. Die Einrichtung von ganzen Regionen, in denen laut der Unterzeichner_innen keine LGBT*IQ-Menschen leben, ist ein klarer Angriff auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans* und inter* Menschen. Das Europaparlament hat als Reaktion darauf in einem ersten Schritt die EU als „LGBTIQ Freedom Zone“ erklärt, um ein deutliches Zeichen gegen die homophobe Rhetorik und Stimmungsmache gegen sexuelle Minderheiten in Polen, zu setzen. Informieren Sie sich zum aktuellen Geschehen diesbezüglich.

Selbstbestimmungsgesetz

Das aktuell geltende „Transsexuellengesetz“ (TSG) ist zutiefst diskriminierend und soll durch das Selbstbestimmungsgesetz ersetz werden. „Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat einen Gesetzentwurf „zur Aufhebung des Transsexuellengesetzes und Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes“ (19/19755) vorgelegt“.

Grundgesetz für Alle

Fordern Sie die Ergänzung des Artikels 3 GG, denn LGBT*IQ-Menschen sind durch den Artikel 3 im Grundgesetz immer noch nicht geschützt. Viele Menschen aus der LGBT*IQ-Community erleben Benachteiligung, Ausgrenzung und Hassgewalt. Ein Schutz durch das Grundgesetz empfinden wir als unentbehrlich und somit gehört PROUT AT WORK zu den Erstunterzeichnenden des Appells „Ein Grundgesetz für Alle“. Unterschreiben Sie auch jetzt noch die passende Petition oder kontaktieren sie passende Abgeordnete.

Rechtliche Gleichstellung von queeren Familien

Setzen Sie sich für die Rechte und gegen die Diskriminierung von lesbischen Personen ein. Im Vergleich zu Kindern von heterosexuellen Paaren, muss die zweite Mutter ihr Kind erst adoptieren, um für eine rechtliche Absicherung zu sorgen – selbst wenn die Eltern verheiratet sind. Unterstützen Sie beispielsweise die Aktion nodoption, die sich gegen die Stiefkindadoption bei Regenbogenfamilien und für die Anerkennung der Elternschaft einsetzt.

MyStory

Wir sammeln Geschichten, die bewegen, unterhalten, inspirieren. Lest unsere ersten vier Geschichten schon heute und seid gespannt auf viele weitere!

Beratungsstellen

LesMigras

„LesMigraS ist der Antidiskriminierungs- und Antigewaltbereich der Lesbenberatung Berlin e.V.“

Gladt e.v.

„GLADT ist eine Selbstorganisation von Schwarzen und of Color Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*, Inter* und Queere Menschen in Berlin, die sich gegen Rassismus, Sexismus, Trans*- und Homofeindlichkeit, Behindertenfeindlichkeit sowie andere Formen von Diskriminierung einsetzt und ein vielfältiges Beratungsangebot anbietet.“

Antidiskriminierungsstelle des Bundes

„Das Beratungsteam mit Jurist_innen kann Sie über Ihre Rechte in einem Fall von Diskriminierung oder sexueller Belästigung informieren, Ihnen Möglichkeiten aufzeigen, ob und wie Sie Ihre Rechte durchsetzen können, eine gütliche Konfliktbeilegung anstreben und versuchen, Ihnen wohnortnahe Expertinnen und Experten zu nennen.“

Bundesverband trans*

„Der Bundesverband Trans* (BVT*) versteht sich als ein Zusammenschluss von Einzelpersonen, Gruppen, Vereinen, Verbänden und Initiativen auf Regional-, Landes- und Bundesebene, deren gemeinsames Bestreben der Einsatz für geschlechtliche Vielfalt und Selbstbestimmung und das Engagement für die Menschenrechte im Sinne von Respekt, Anerkennung, Gleichberechtigung, gesellschaftlicher Teilhabe und Gesundheit von trans* bzw. nicht im binären Geschlechtersystem verorteter Personen ist.“

Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V.

„Die dgti hat sich zum Ziel gesetzt, die Akzeptanz von Transidenten innerhalb der Gesellschaft zu fördern und deren Stigmatisierung entgegenzuwirken. Sie soll Betroffene und Interessierte beraten und betreuen, sofern dies gewünscht wird. Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit sollte die (Re-)Integration von Betroffenen in den Arbeitsprozess sein, um so der Gefahr des sozialen Abstiegs zu begegnen, der heutzutage noch mit dem sozialen Wechsel verbunden ist. Sie tritt für mehr Offenheit der eigenen Identität gegenüber ein und trägt der Vielfalt menschlichen Daseins Rechnung.“

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